In der Chemie ein Gemisch, als Adjektiv vielfältig, in der Realität, schrecklich

Von links, von rechts, von vorne, von hinten, vielleicht sogar von oben oder unten?

Es lässt sich gar nicht mehr ausmachen, von welcher Richtung die antisemitischen Vorurteile und Gerüchte uns, und diesmal nicht dem Protagonisten Andri des Dramas „Andorra“ des Autors Max Frisch entgegengebracht werden. Es scheint so, als würden sie von überall herkommen.

Ich fühle mich erdrückt und eingeengt, so als würde man mir die Luft zum Atmen wegnehmen.
Wenn ich hätte probieren sollen zwischen all diesen Äußerungen die Wahrheit zu erkennen, hätte ich versagt.

Am 4.12.2020 haben wir, meine Klasse 9d und ich, Emily Bunk, als Teil der Auseinandersetzung mit dem Drama „Andorra“, welches wir im Deutschunterricht bei unserem Klassenlehrer Herrn Schumann gelesen haben, eine sogenannte Flüstergasse nachgestellt.

In dem Drama „Andorra“ geht es um einen vermeintlichen Juden, dem es von der andorranischen Gesellschaft, welche durchsetzt von antisemitischen Vorurteilen ist, nicht leichtgemacht wird, zu existieren. Er wird mit angeblichen Eigenschaften konfrontiert, die er haben müsse, weil er Jude sei. Doch dies ist eine Lüge, mit der Andri sein ganzes Leben lang schon gelebt hat. Die Vorurteile sind im Endeffekt jedoch stärker als seine tatsächliche Identität. Denn Andri ist in Wirklichkeit gar kein Jude. Dies lässt er am Ende aber gar nicht mehr an sich heran, da die Vorurteile von ihm Besitz ergreifen und er glaubt, er sei so, wie ihn die anderen sehen, nämlich ein geldgieriger Jude, der ihnen die Frauen und die Ausbildungsplätze wegnähme.

Wir haben uns die Frage gestellt, wie es uns an Andris Stelle ergehen würde, wenn man uns in einer Situation des Alleinseins und der Schutzlosigkeit eine Vielzahl von Gerüchten und Vorurteilen nachsagen würde.

Damit wir dies herausfinden konnten, stellten wir uns auf dem Schulhof des KAIFUs in zwei Reihen zu einer Gasse auf und riefen, flüsterten, raunten, oder was es auch immer noch an Verben fürs Ausdrücken von Sätzen gibt, immer einer Person, die durch diese Flüstergasse ging, einen Spruch aus dem Drama zu, den wir im Voraus bekommen hatten. An die genauen Sätze kann ich mich nicht mehr erinnern, nur an Stichwörter und an meinen zugeteilten Satz:

„Du hast den Stein geworfen und die Senora umgebracht, du Mörder!“
„Für so einen sollen wir kämpfen!“, „Geldgierig“, „Typisch Jude“

Die Stimmung war… vielfältig!? Es gibt nicht wirklich ein perfektes Wort, um die Stimmung zu beschreiben, die sich auftat hat, als wir uns dort bei einer Eiseskälte in einem Spalier gegenüberstanden und uns mit einer Mischung zwischen Aufregung, Angst vor dem Moment des Passierens, „eigentlich habe ich hier gar keine Lust drauf“, „Mist, ist mir kalt“, dem Lachen des Witzes von vor ein paar Sekunden auf den Lippen und der Überwältigung der Einflüsse, als man durch diese Flüstergasse ging, anschauten. Vielleicht ist „vielfältig“ doch ganz gut gewählt, um die Gefühle der einzelnen Teilnehmer zu beschreiben. Ich persönlich fühlte mich überhaupt nicht wohl in meiner Haut und wollte mich eigentlich so schnell wie möglich aus dieser Flüstergasse entfernen.

Stell dir vor:
Du läufst. Du wirst immer schneller. Probierst noch etwas schneller zu laufen.
Du rennst. Du rennst so schnell wie es nur geht. Doch irgendwann wirst du müde und kannst nicht mehr. Das, wovor du flüchtest, kommt näher und näher und hat dich irgendwann eingeholt.

So muss es Andri wohl ergehen, als ihn all diese Vorurteile irgendwann einholen. Irgendwann kann er sich nicht mehr dagegen wehren, vor allem nicht alleine. Schließlich nimmt er sie an. Auch dass er niemanden hat, der dieses Schicksal mit ihm aufhält, muss ihm das Gefühl einer unendlichen Einsamkeit geben. Er verändert sich, weil er es anders nicht mehr aushalten kann.

Ob meine Identität beeinflusst werden und sich verändern würde, wenn ich die Protagonistin dieses Dramas wäre? Dies ist etwas, was ich vorerst mit „Ja“ beantworten würde. Denn durch das Beispiel Andris ist zu erkennen, dass du, auch wenn du deinen ganzen Willen dagegen aufbringst, irgendwann eingeholt wirst von dem Bild, was sich andere von dir machen, auch wenn du versuchst so zu sein wie alle anderen. Im Gegensatz zu Andri fühlte es sich für mich ungewohnt an durch eine Flüstergasse zu laufen und Sachen nachgesagt zu bekommen, die ich hier ungerne ein zweites Mal erwähnen möchte. Für Andri ist es eine täglich quälende Erfahrung.

Denn in meinem bisherigen Leben, habe ich zu meinem Glück erst selten bis fast nie so eine Situation erfahren müssen. Denn nun kann ich mir umso besser vorstellen, was für eine schreckliche Erfahrung es sein muss, wenn dir deine Mitmenschen mit Vorurteilen und Fremdenfeindlichkeit begegnen.

Abschließend ziehe ich einen Bezug zwischen dem Drama „Andorra“ und der heutigen Zeit: Antisemitismus spielt leider immer noch eine Rolle. Dies führt uns der erschütternde Anschlag auf den Gottesdienst der Synagoge an der Hohen Weide in den Herbstferien 2020 vor Augen.
Deshalb bin ich der Meinung, dass es wichtig ist, junge Menschen für die Themen Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus zu sensibilisieren, um uns von einem Verhalten wie das der Andorraner und Taten wie die des Angreifers auf die Synagoge zu distanzieren. Dafür werden wir uns als Klassen- und Schulgemeinschaft einsetzen.

-Emily Bunk , 9d