,,Diese deutsch-israelische Beziehung, diese einzigartige Freundschaft, sie wird immer beides benötigen: gemeinsame Hoffnung und gemeinsame Erinnerung. Gemeinsame Chancen, Ambitionen, Projekte für die Zukunft – und natürlich auch den gemeinsamen Blick in die Vergangenheit, die Aufarbeitung, die Rechenschaft.’’ – Frank-Walter Steinmeier

Als mir Herr Schumann vom Johannes-Rau-Stipendium berichtete, ein Austauschprogramm, bei dem man eine Woche lang einen israelischen Gast bei sich aufnimmt und danach eine Woche mit ihm und ca. zwanzig anderen deutsch-israelischen Tandems in Berlin verbringt, dachte ich sofort, da muss ich mich unbedingt bewerben. Die Chance, durch den Austausch mit Gleichaltrigen mehr über die Kultur und Geschichte des Landes zu lernen, zu dem Deutschland eine so einzigartige und besondere Beziehung hat, wie es in dem obigen Zitat hervorgehoben wird, wollte ich mir nicht entgehen lassen. Nachdem ich erfahren hatte, dass ich angenommen wurde, ging es mit einem dreitägigen Vorbereitungsseminar in Köln los. Hier erfolgte ein erstes Kennenlernen der deutschen Teilnehmer*innen. Es gab verschiedene Workshops über Israel und gemeinsame Ausflüge in Köln. Wir waren alle sehr aufgeregt, die Israelis bald zu treffen. In den Sommerferien erreichte uns dann eine E-Mail mit dem Brief meiner Austauschschülerin Noga. Wir nahmen per WhatsApp Kontakt auf und verstanden uns von Anfang an gut. Die Zeit verging wie im Fluge, bis ich Noga und andere Hamburger Schüler:innen ihre Gäste vom Bahnhof abholten. Wir hatten ein vielseitiges Programm für die Woche aufgestellt: Rudern auf der Alster, Konzertbesuch in der Elbphilharmonie und meine Geburtstagsparty. Eine enge Freundschaft entwickelte sich zwischen uns und es war eine großartige Gelegenheit sich über gemeinsame Interessen, wie Politik, Musik, Geschichte und Kultur auszutauschen. Wir planten auch schon meinen Gegenbesuch in Israel. Wir hatten viel Spaß zusammen.

Nach einer langen Partynacht ging es für uns dann nach Berlin. Dort angekommen gab es ein Wiedersehen mit den anderen deutschen Teilnehmer:innen und wir lernten die anderen Israelis kennen. Auf das Programm haben wir uns alle sehr gefreut. Die ersten Tage waren anstrengend, aber schön. Wir waren den ganzen Tag unterwegs. Einige Highlights des Programms waren: Diskussion im Auswärtigen Amt, Tour durch das Schloss Bellevue, Führung durch den Bundestag, Konzert in der Berliner Philharmonie und der Besuch des Holocaust-Denkmals und Museums, mit einem anschließenden Gespräch in den Räumen der Landesvertretung Bayerns. Wir haben uns als Gruppe sehr gut verstanden und die Teilnehmer:innen waren mir inzwischen sehr ans Herz gewachsen. Das Gespräch nach dem Besuch des Holocaust-Denkmals war sehr bewegend und hatte eine große Wirkung auf mich. Es war sehr ergreifend, Familiengeschichten von beiden Seiten zu hören, viele von uns brachen in Tränen aus. Das Erlebnis hat uns allen eine Botschaft vermittelt, die mich in der Zukunft begleiten wird: Vergeben, aber niemals vergessen!

Der Plan für die letzten zwei Tage sah einen Graffiti-Workshop, Freizeit in Berlin und eine Abschiedsparty vor, doch es kam alles anders als erwartet. Niemand von uns hätte gedacht, dass der Austausch dramatisch enden wird und dass wir selber zu Zeugen eines tragischen historischen Moments werden würden. Wir, die die Geschichte verstehen wollten, über die wir diskutierten, waren nun unmittelbar betroffen:

Als ich am 07. Oktober als erste aufwachte, las ich zunächst die Nachrichten auf meinem Handy. Man hatte sich gerade an all die Probleme, mit der die Welt zurzeit zu kämpfen hat, gewöhnt. Ich ging ins Bad und als ich zehn Minuten später herauskam, überschlugen sich die Nachrichten und wir waren plötzlich mit einem weiteren Krieg konfrontiert: Terroristen überfielen israelische Siedlungen vom Gaza-Streifen aus und schossen Raketen auf israelisches Territorium ab. Meine zwei israelischen Zimmernachbarinnen berichteten mir die schockierenden Neuigkeiten. Sie kontaktierten sofort ihre Familien. Es hat mich an den Morgen des 24. Februars 2022 während meines Auslandsschulaufenthalts in England erinnert, als meine ukrainische Zimmernachbarin und ich von dem russischen Angriff auf die Ukraine erfuhren. Jetzt war ich irgendwie schon wieder unmittelbar Zeuge großen Leids. Wir setzten zunächst das Programm für den Tag trotzdem fort. Nach dem Graffiti-Workshop sind wir gemeinsam wieder zurück zum Hotel gefahren. Die Israelis haben mit ihren Eltern und Freunden telefoniert und wir haben nebenbei den Fernseher mit Nachrichten laufenlassen. Viele haben sich Sorgen um ihre Geschwister gemacht, die nun vom Militär eingezogen wurden. Meine Austauschpartnerin kannte sogar Personen, die bei dem ,,Nova Festival“ waren.

Die Leiter des Programms haben die israelische Botschaft kontaktiert, deren Mitarbeiter wusste jedoch auch nur genau so viel wie wir. Niemand wusste so recht, wie es weitergehen sollte und ob die Airline den Rückflug für Sonntag streichen wird. Der Großteil der Israelis wirkte fest entschlossen zurückzufliegen, obwohl wir alle Angst hatten und vieles unklar blieb. Man konnte das Zusammengehörigkeitsgefühl in diesen Stunden in der Gruppe besonders gut spüren. Einige, die im Norden des Landes wohnen, haben angeboten, Austauschschüler aus dem Süden, die in der Nähe des Gazastreifens wohnen, vorübergehend bei sich aufzunehmen. Am Sonntag haben wir uns dann mit Tränen in den Augen von allen verabschiedet und die Israelis sind gemeinsam wieder zurückgeflogen. Sie sind alle gut zu Hause angekommen. Es ist schwierig mit der Kommunikation. Einige fangen schon bald mit ihrem Militärdienst an.

Ich denke oft an meine israelischen Freunde, für die, während ich nach dieser erlebnisreichen Woche in Berlin mein gewohntes Leben wieder aufnehmen konnte, die Situation sich nun ganz anders gestaltet. Trotz der schrecklichen Erlebnisse hatten wir eine beeindruckende Zeit und sehr viel Spaß miteinander gehabt. Ich bin sehr glücklich, dass ich am Johannes-Rau-Programm 2023 teilnehmen durfte, denn die Ereignisse und Erfahrungen haben mich tief bewegt und mir nicht nur einen Einblick in die Kultur und Geschichte Israels gegeben, sondern auch eindringlich aufgezeigt, wie schnell die politische Lage sich ändern und welche weitreichenden Konsequenzen dies für Individuen haben kann. Mein Verständnis und meine Wahrnehmung von Frieden, Freundschaft und internationalen Beziehungen sind nun tiefer und komplexer. Der Austausch hat mich dazu herausgefordert, über die Werte nachzudenken, die uns in Zeiten der Krise zusammenhalten, und wie wichtig es ist, Brücken zwischen Kulturen und Nationen zu bauen, um einen dauerhaften Frieden sicherzustellen. Deshalb schließe ich den Austausch mit einer tiefen Dankbarkeit für die Erfahrung und die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen mit meinen neuen israelischen Freunden ab.

An dieser Stelle möchte ich Herr Schumann nochmals für seine Empfehlung an diesem Programm teilzunehmen und den Mitarbeitenden des Pädagogischen Austauschdienstes (PAD) für die Durchführung des Programms herzlich danken.

Sophia P., S3 (HLG, ehem. KAIFU)